Stillen – Idealbild und Realität

Wenn wir an das Stillen denken, welches Bild taucht dann vor unserem geistigen Auge auf?
Das Bild einer Frau, die einfach ihr Stilloberteil zurechtzieht und das Kind andockt, dieses saugt sofort und ist nach kurzer Zeit satt und zufrieden. Vielleicht versteckt sie ihre Blöße und ihr Kind noch hinter einem übergroßen Spucktuch, aber mehr fällt uns dazu nicht ein.
Es ist das klassische Bild, das uns in diversen Medien (egal ob Büchern, Serien, Filmen oder in der Werbung) immer wieder präsentiert und gerne mit folgenden Sprüchen beworben wird:
„Stillen ist die beste und natürlichste Ernährung für Ihr Baby.“
„Muttermilch ist das Beste für dein Kind!“
„Breast is Best!“
Medizinisch gesehen, ist diese Aussage auch vollkommen richtig. Leider bleibt dabei auf der Strecke, ob das Stillen für die Mutter das Beste ist oder es überhaupt klappt, denn die Realität ist: Stillen ist nicht so einfach, wie es dargestellt wird, und meistens harte Arbeit, die für die Mutter eine enorme psychische und körperliche Belastung sein kann.
Diese Belastung fängt nicht erst nach der Geburt an. In den meisten Fällen beginnt sie irgendwann im dritten Trimenon, also in den letzten Wochen vor der Geburt. Eingeläutet wird sie entweder durch das Einschießen des Kolostrums (Vormilch) oder durch die ersten Fragen von Außenstehenden (Ärzt*e/innen, Hebammen, Freund*e/innen, Familie, Bekannte), wie man das Kind eigentlich nach der Geburt ernähren will.
Theoretisch ist die Antwort auf diese Frage leicht zu geben: Entweder man will stillen oder eben nicht. Das einzige Problem dabei ist nur: In den meisten Fällen wissen die werdenden Mütter zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, ob sie überhaupt werden stillen können, denn es gibt genug Faktoren, die dieses entweder mühsam oder sogar unmöglich machen.
Die Faktoren sind so einzigartig wie vielfältig, also wie die Schwangerschaft selbst und umfassen unter anderem:
- Verbleiben von Plazenta-Resten nach der Geburt
- Ausgeprägte Blutarmut sowie Eisenmangelanämie
- Starker Blutverlust während der Geburt
- Unterernährung der Mutter
- Schilddrüsen-Über- oder Unterfunktion
- Brustverletzungen
- Brustkrebs
- Operative Eingriffe vor der Schwangerschaft (z. B. nach der Entfernung von Knoten)
- Fehlbildungen der Brust
- PCO oder PCO-like in Kombination mit Übergewicht sowie geringem Brustwachstum während der Schwangerschaft
- Hyperandrogenämie (Hormonstörung)
- Sheehan-Syndrom (Hypophysenvorderlappen-Insuffizienz)
- Diabetes-Erkrankung und falsche Medikamenten-Einstellung
- Einnahme bestimmter Arzneimittel
- Alkoholsucht
- Drogenkonsum
- Exzessiver Tabakkonsum
- HIV-, HTLV- oder Ebola-Infektionen
- Herpes-Infektionen an der Brust
- Akute Krebserkrankung bei gleichzeitiger Behandlung
- Schilddrüsenerkrankungen, die mit radioaktivem Jod diagnostiziert oder behandelt werden
- Zu starker Milcheinschuss
- Zu geringer Milcheinschuss
- Schmerzen beim Stillen
- Stress
- Übermüdung
Und das sind nur die Faktoren, welche die Mutter betreffen. Dazu kommen noch die Faktoren, die das Kind betreffen:
- Hartnäckige Brustverweigerung
- Frühgeburt
- Saugschwäche
- Verkürztes Lippenbändchen
- Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
- Neurologische Beeinträchtigungen
- Pierre-Robin-Sequenz
- Choanalatresie
- Chylothorax
- Galaktosämie
- Phenylketonurie
Die Länge dieser beiden Listen zeigt auf, dass die Wahrscheinlichkeit für Probleme beim Stillen enorm hoch ist und es nur in den seltensten Fällen sofort und ohne Probleme klappt.
Selbst wenn das Stillen an sich kein Problem darstellt, kommt der enorme Kraftaufwand hinzu, das Kind zu jeder Tages- und Nachtzeit in unterschiedlich kurzen Intervallen stillen und sich gleichzeitig körperlich von den Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt erholen zu müssen. Einem wenige Tage- oder auch Monate alten Säugling alle halbe, jede Stunde oder alle zwei Stunden die Brust geben zu müssen, geht mit großem Schlafmangel und dementsprechend auch mit einer krassen Erschöpfung einher. All das geht einer frischgebackenen Mutter auf lange Sicht im wahrsten Sinne des Wortes an die Substanz – körperlich und psychisch.
Wenn es mit dem Stillen nicht funktioniert, macht man sich als Mutter sehr schnell Vorwürfe. Sucht den Fehler bei sich, versucht Mittel und Wege zu finden, um den Milcheinschuss und die Milchmenge zu steigern (von Hausmitteln wie Malzbier und Boxhornkleesamen bis hin zu Milchpumpen und regelmäßigem Ausstreichen) und quält sich wochen- oder monatelang, nur um ein Ideal zu erfüllen, dass es leider nicht gibt.
Diese Realität lässt sich nur selten mit dem Ideal und der Vorstellung des Stillens vereinbaren und wird leider viel zu selten in den verschiedenen Medien gezeigt. Es wäre schön, wenn sich das ändern würde, denn das nähme den Müttern zumindest den Druck, diesem Ideal entsprechen zu müssen. Mal davon abgesehen, dass es ein wesentlich realistisches Bild zeichnen würde, was allen zugutekäme.
Und wie so oft fängt der Wandel bei der veränderten Darstellung in den Medien an. Deswegen versucht beim nächsten Mal, wenn ihr eine frischgebackene Mutter und das Stillen darstellt, nicht nur das idealisierte Bild zu zeichnen, sondern das realistische.